Der Generationenvertrag in Deutschland ist gebrochen – so lautet die zentrale These des Ökonomen Marcel Fratzscher in seinem Ende August erschienenen Buch „Nach uns die Zukunft“. Über Jahrzehnte beruhte das unausgesprochene Abkommen auf einem klaren Prinzip: Die arbeitende Generation trägt die Renten der Älteren und erhält im Gegenzug eine stabile Wirtschaft, eine funktionierende Demokratie und eine intakte Umwelt. Nach Fratzschers Einschätzung haben die Babyboomer dieses Versprechen jedoch nicht eingelöst – vielmehr hätten sie das Land aktiv „in die Krisen geführt“.
Rente: Ein gebrochenes Versprechen
Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Bonn zeigte bereits 2023: Rund 84 Prozent der Deutschen sind überzeugt, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird als ihnen selbst. „Wir leben in einer Zeit der Polykrisen und enormen Transformationen“, bemerkt Fratzscher im Gespräch mit der WirtschaftsWoche.
Die Babyboomer verzeichneten zweifellos historische Erfolge: Millionen Menschen weltweit entkamen der Armut, das globale Wachstum war kräftig, die Lebenserwartung stieg. Doch im Inland sieht die Bilanz düsterer aus. Babyboomer gingen früher in Rente, lebten länger und erhielten deutlich höhere Rentenzahlungen als ihre Eltern. Laut dem ifo Institut für Wirtschaftsforschung haben sich die durchschnittlichen Rentenleistungen pro Person zwischen 1960 und 2018 mehr als verdreifacht. Finanziert wurde das nicht durch höhere Beiträge, sondern durch stetig steigende Bundeszuschüsse.
Heute finanzieren weniger als drei Beschäftigte eine Rentnerin oder einen Rentner. Bis 2050 wird dieses Verhältnis auf zwei zu eins sinken. Die Stiftung Marktwirtschaft errechnet in ihrer Generationenbilanz 2024 eine tatsächliche Staatsschuld von 374 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wenn man die impliziten Renten- und Gesundheitsversprechen einrechnet. Dieser Rentenschock sei eine Zeitbombe für die Jüngeren.
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Die Last der Gen Z
Trotz dieser Strukturen kreist die öffentliche Debatte um Vorurteile. Politiker*innen und Unternehmer*innen klagen über die angeblich „arbeitsscheue“ Generation Z (Gen Z). Forderungen nach einer längeren Wochenarbeitszeit richten sich oft an die Jüngeren. Fratzscher hält dagegen:
„Dabei liegt das eigentliche Versäumnis bei den Babyboomern – sie haben zu wenige Kinder bekommen. In den 1960er-Jahren trugen sechs Beschäftigte einen Rentner. Heute sollen zwei Jüngere einen Älteren mitversorgen. Das kann nicht funktionieren.“
Gleichzeitig steht die Generation Z vor multiplen Krisen: Klimawandel, Wohnungsknappheit, Jobunsicherheit, geopolitische Konflikte. Psychische Probleme sind allgegenwärtig. Laut dem AXA Mind Health Report 2024 leiden 39 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Deutschland unter starker Belastung, Angst oder Depression. Für viele junge Menschen sind das keine „Luxusprobleme“, sondern harte Realität.
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Bildungssystem im Rückschritt
Noch verschärft wird die Lage durch ein schwächelndes Bildungssystem. Die PISA-Studie 2022 zeigt: Deutschland liegt in Mathematik nur noch im OECD-Durchschnitt (475 Punkte). Zudem verlassen jedes Jahr etwa 50.000 Schüler*innen die Schule ohne Abschluss – dem Statistischen Bundesamt (Destatis) zufolge entspricht das etwas über sechs Prozent aller Schulabgänger*innen.
Ihre Chancen auf eine Ausbildung sind minimal. 2021 gelang es, so Destatis weiter, nur 13.100 Jugendlichen ohne Abschluss, einen Ausbildungsvertrag zu bekommen. Selbst wer einen Ausbildungsplatz findet, muss mit sehr geringen Einkommen rechnen: Die gesetzliche Mindestvergütung für Auszubildende beträgt 2025 im ersten Jahr 682 Euro im Monat – entsprechend gesetzlich festgelegten Untergrenze für die monatliche Ausbildungsvergütung.
Fratzscher betont: „Wer heute eine Ausbildung macht, muss damit rechnen, sich im Berufsleben ein- oder zweimal völlig neu erfinden zu müssen.“ Diese Flexibilität kannten die Babyboomer nicht. „Die junge Generation steht damit vor einer doppelten Last“, so Fratzscher weiter. „Sie soll die wirtschaftliche und grüne Transformation stemmen, Nachhaltigkeit sichern und neue Technologien meistern – ohne die Werkzeuge, die sie bräuchte.“
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Fachkräftemangel: kein Faulheitsproblem
Der Fachkräftemangel ist real, aber falsch erklärt. Laut der Engpassanalyse 2024 der Bundesagentur für Arbeit gelten 163 Berufe als Mangelberufe, vor allem in Pflege, Gesundheit und den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik).
Das Problem sei nicht, dass die Gen Z „nicht arbeiten will“, sagt Fratzscher, sondern dass Qualifikationen und offene Stellen nicht zusammenpassen. Besonders in der Pflege: harte Arbeit, hohe Anforderungen, niedrige Bezahlung. Strukturelle Missstände, keine „Haltungsschwäche“ der Jugend.
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Gute Schulden, schlechte Schulden
Ein weiteres Konfliktfeld ist die Staatsverschuldung. Deutschland plant in den kommenden Jahren Rekordschulden von 850 Milliarden Euro. Kritiker*innen sehen darin eine Last für die Jungen, Befürworter*innen eine Investition in die Zukunft.
Fratzscher unterscheidet: „Gute Schulden“ seien Investitionen in Bildung und Infrastruktur, die langfristig Wohlstand schaffen. 100 Euro für Bildung könnten 200 bis 300 Euro an Steuereinnahmen zurückbringen. „Schlechte Schulden“ hingegen fließen in konsumtive Ausgaben wie Rentenpakete.
Doch die Politik entscheide sich meist für Letzteres. Das Rentenpaket II erhöht die implizite Rentenverschuldung um knapp 40 Prozent des BIP. „Von allen Rentensünden seit den 2010er Jahren wäre dies die schwerwiegendste“, warnt etwa der Freiburger Ökonom und Vorstandsmitglied der Stiftung Marktwirtschaft Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen.
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Mindestlohn, Meritokratie und Respekt
Die Folgen sind politisch spürbar. Ein Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Europawahl 2024, an dem auch Fratzscher beteiligt war, zeigt: Populistische Parteien wie die AfD erzielten dort ihre größten Erfolge, wo die Bevölkerung überaltert ist und die Bildungsquote niedrig liegt. In Ostdeutschland erreichte die AfD über 30 Prozent der Stimmen.
Auch kulturell, so Fratzscher, brauche es ein Umdenken. In Deutschland genießen akademische Karrieren mehr Anerkennung als handwerkliche oder berufspraktische. Wer keinen Hochschulabschluss hat, erfahre oft weniger Respekt.
Beim Mindestlohn zeigt sich die Schieflage. Kritiker*innen behaupten, höhere Löhne würden Arbeitsplätze kosten. Doch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 hat nicht zu Jobverlusten geführt, sondern Effizienzgewinne gebracht, wie mitunter eine 2023 im Auftrag der Mindestlohnkommission veröffentlichte Studie (Download) zeigt. Für Auszubildende, die mit 400 bis 700 Euro im Monat überleben müssen, ist das eigentliche Problem nicht der Mindestlohn – sondern Ausbeutung.
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Wohlstand neu denken
Die entscheidende Frage lautet: Was verstehen wir unter Wohlstand? Babyboomer verbanden ihn vor allem mit Bruttoinlandsprodukt und materieller Sicherheit. Fratzscher fordert eine breitere Definition: sozialer Frieden, Teilhabe, Nachhaltigkeit.
Wer heute mit 65 Jahren in Rente geht, hat im Schnitt noch 20 Jahre Lebenserwartung. Viele Babyboomer werden die härtesten Krisenfolgen wohl nicht mehr selbst erleben. Ihre Kinder und Enkelkinder dagegen schon. Gleichzeitig zeigen Umfragen: Auch vielen Älteren ist es wichtig, eine intakte Welt zu hinterlassen. Das, so Fratzscher, sei die Basis für einen neuen Generationenvertrag.
Die Erneuerung erfordert klare Schritte:
- Anpassung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.
- Massive Investitionen in Schulen, Universitäten und berufliche Bildung.
- Faire Lastenverteilung.
- Anerkennung und Aufwertung nicht-akademischer Arbeit.
Vor allem aber Ehrlichkeit über das Ausmaß der Krise. Der Rentenschock ist kein Rechenfehler, sondern eine gesellschaftliche Bewährungsprobe.
„[Die Babyboomer] tragen erhebliche Verantwortung. Ihr Verhalten in den letzten 35 Jahren hat uns in die Krisen geführt. Doch sie weigern sich, die Probleme anzuerkennen, und schieben die Last der Lösung auf die Jungen.“
Marcel Fratzscher
Ob es den jungen Generationen gelingt, die grüne und digitale Transformation zu meistern und gleichzeitig das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen, hängt paradoxerweise auch von jener Generation ab, die uns „in die Krise geführt“ hat.
Quellen: „Demokratievertrauen in Krisenzeiten – Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft?“ (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2023); WirtschaftsWoche; ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.; Stiftung Marktwirtschaft; AXA; „PISA 2022. Analyse der Bildungsergebnisse in Deutschland“ (Waxmann, 2023); Statistisches Bundesamt; Bundesgesetzblatt; Bundesagentur für Arbeit; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung; „Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit“ (Evaluation Office Caliendo & Partner, 2023)
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