Deutschland und Europa stehen erneut vor einem Wendepunkt in der Energieversorgung. Die Gaskrise von 2022 ließ sich zwar durch günstige Marktbedingungen und politische Eingriffe abmildern, doch die strukturellen Herausforderungen bestehen fort. Eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG) warnt, dass die Abhängigkeit von kurzfristigen Erdgas-Beschaffungen weiterhin ein erhebliches Risiko für Industrie und private Haushalte darstellt.
Wachsende Abhängigkeit vom Erdgas-Spotmarkt
Derzeit sind rund 28 Prozent des europäischen Bedarfs an Erdgas nicht durch langfristige Verträge abgesichert. Bis 2030 laufen weitere 20 Prozent der bestehenden Importvereinbarungen aus – damit würde fast die Hälfte des Bedarfs über den volatilen Spotmarkt gedeckt. Asiatische Importeure wie Japan und China hingegen haben über 90 Prozent ihres Gasbedarfs langfristig abgesichert und sind damit deutlich besser gegen Preisschwankungen geschützt.
Die Folgen für die europäische Industrie sind gravierend, zeigt das Beratungsteam in seiner Analyse. Hohe und schwankende Gaspreise belasten energieintensive Branchen wie Chemie, Stahl oder Glasproduktion. In Deutschland ist ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung bedroht – das betrifft etwa drei Millionen Arbeitsplätze.
Die Berechnungen sind eindeutig:
- Bei einem Gaspreis von 27 Euro pro Megawattstunde (€/MWh) können viele Industrien ähnlich profitabel arbeiten wie vor der Krise.
- Bei 60 €/MWh geraten zahlreiche Branchen in die Verlustzone.
Für Haushalte gehen damit ebenfalls Risiken einher: Steigen die Preise stark, schlägt sich das in Heiz- und Stromrechnungen nieder.
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BCG-Empfehlung: Langfristige Verträge
Die Expert*innen von BCG fordern europäische Regierungen auf, langfristige Verträge für Flüssigerdgas (LNG) mit festen Preisen zwischen 25 und 30 Euro pro Megawattstunde abzuschließen. Das liegt zwar über dem Vorkrisenniveau von 15 bis 20 Euro, würde aber Europa gegen Preisspitzen von 70 bis 100 Euro pro Megawattstunde absichern, wie sie bei geopolitischen Krisen jederzeit auftreten können.
„Bei Gaspreisen von 27 €/MWh — z.B. bei US-LNG-Importen — würden Hersteller von Zwischen- und Endprodukten unter der Annahme von ansonsten konstanten Kosten einen ähnlichen Profit wie 2019 erwirtschaften“, schreibt das Team. Für die Industrie bedeutet das Planungssicherheit, für Haushalte weniger Risiko explodierender Nebenkosten. „Die Grundstoffproduktion hingegen würde bei diesem Preisniveau bereits deutliche
Margenrückgänge verzeichnen.“
Vor diesem Hintergrund gewinnt der Plan der Europäischen Union, bis 2028 vollständig auf russisches Erdgas zu verzichten, zusätzliche Brisanz. Während 2021 noch rund 45 % des europäischen Gasverbrauchs aus Russland stammten, liegt der Anteil 2025 nur noch bei 13 %. Für rund 20 Millionen deutsche Haushalte, die mit Erdgas heizen, bedeutet der geplante Lieferstopp steigende Abhängigkeit von alternativen Quellen – allen voran US-LNG.
Damit werden die von BCG geforderten langfristigen Verträge nicht nur zu einer Frage der industriellen Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch zu einer direkten Schutzmaßnahme für Verbraucher*innen, deren Heiz- und Stromkosten ohne stabile Preisbindungen weiter in die Höhe schnellen könnten.
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Merz-Regierung zwischen Stabilität und Klimazielen
Die Bundesregierung unter Friedrich Merz steht damit vor einer schwierigen Entscheidung. Langfristige Verträge würden Stabilität schaffen, gleichzeitig aber fossile Energien länger festschreiben. Zugleich ist das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 nicht nur Kern des Pariser Klimaabkommens, sondern auch fester Bestandteil des Koalitionsvertrags zwischen Union und SPD. Die Studie hält dagegen: Erdgas bleibt in der Übergangsphase unverzichtbar – sowohl als Backup für erneuerbare Energien als auch als Brückenlösung für Industrien, die auf Wasserstoff warten.
Erschwert wird die Situation durch ein „Henne-Ei-Problem“, das die BCG mitunter in einer aktuellen Pressemitteilung erläutert:
„Importeure können sich nicht zu langfristigen Lieferverträgen mit Preisbindung verpflichten, da sie ohne entsprechende längerfristige Abnahme der Industriekunden ein hohes Risiko tragen würden. Industrielle Abnehmer andererseits verfügen oft nicht über eine ausreichende Bonität, um solche Vereinbarungen abzuschließen, oder vermeiden bewusst langfristige Verpflichtungen, um ihre Flexibilität zu bewahren und sich gegen Lieferausfälle sowie regulatorische Risiken abzusichern.“
Ohne politisches Eingreifen bleibt Europa in einer Sackgasse. Weder Importeure noch Industriekund*innen wollen das Risiko allein tragen. Genau hier kommt die Merz-Regierung ins Spiel. Sie könnte mit Garantien, Bürgschaften oder Förderinstrumenten dafür sorgen, dass beide Seiten Vertrauen in langfristige Verträge entwickeln. Tut sie das nicht, bleibt Deutschland vom teuren Spotmarkt abhängig – mit der Gefahr, dass Industrieproduktion ins Ausland abwandert und private Haushalte erneut mit explodierenden Gasrechnungen belastet werden.
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Direkte Folgen für Haushalte
Für Haushalte geht es um mehr als abstrakte Energiepolitik. Schon heute zahlst du in Europa deutlich höhere Gaspreise als Menschen in den USA oder Asien. Sollten Spotmarktpreise wie 2022 zurückkehren, könnten Heiz- und Stromkosten massiv steigen – gerade für Familien mit geringem Einkommen wäre das eine große Belastung.
Für einen typischen Haushalt mit 20.000 Kilowattstunden (kWh) Gasverbrauch pro Jahr macht der Energiepreis einen erheblichen Unterschied. Bei stabilen 27 Euro pro Megawattstunde – wie sie durch langfristige US-LNG-Verträge erreichbar wären – läge die reine Jahresrechnung inklusive CO2-Kosten, Gasspeicherumlage und Mehrwertsteuer bei rund 980 Euro, zuzüglich regionaler Netz- und Grundgebühren. Steigt der Preis auf 60 Euro pro Megawattstunde, erhöht sich die Summe bereits auf rund 1.760 Euro.
In einem Krisenszenario (100 €/MWh) müssten Haushalte sogar mit etwa 2.700 Euro rechnen. Addiert man übliche Netz- und Messentgelte von 150 bis 400 Euro hinzu, ergeben sich Gesamtkosten zwischen 1.130 und 3.100 Euro pro Jahr. Für viele Familien mit geringem Einkommen bedeutet das eine spürbare Mehrbelastung – und macht deutlich, warum stabile, langfristige Verträge nicht nur für die Industrie, sondern auch für private Haushalte entscheidend sind.
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„Europa kann sich keine weitere Energiekrise leisten“
Die BCG-Studie endet mit einer klaren Botschaft: „Europa kann sich keine weitere Energiekrise leisten“. In den nächsten drei Jahren entstehen weltweit neue Flüssigerdgas-Kapazitäten – eine einmalige Gelegenheit für langfristige Verträge zu stabilen Preisen. Wird sie verpasst, droht Europa im globalen Wettbewerb um günstige Energie ins Hintertreffen zu geraten.
Die Entscheidungen der Merz-Regierung könnten daher nicht nur die Zukunft der Industrie bestimmen, sondern auch darüber entscheiden, ob deine Gasrechnung in den kommenden Jahren bezahlbar bleibt.
Quellen: „Ein neuer Ansatz für Gasimporte zum Schutz Europas industrieller Zukunft“ (Boston Consulting Group, 2025); Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD; Boston Consulting Group
Hinweis: Ukraine-Hilfe
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