Der Kreml hat die Debatte um Nord Stream, eines der umstrittensten Energieprojekte Europas, erneut angeheizt. Am 26. September 2025 erklärte Moskau, eine der Leitungen sei „sofort betriebsbereit“ – ein deutliches Signal für mögliche kurzfristige Gaslieferungen nach Deutschland. Drei Jahre nach den Explosionen, die weite Teile der Infrastruktur zerstörten, wird damit erneut die politische Brisanz des Projekts sichtbar. Doch in Berlin und Brüssel stoßen die russischen Vorstöße auf erhebliche rechtliche, technische und politische Hürden.
Nord Stream: (K)ein Weg für Erdgas
Das Nord-Stream-System, ursprünglich gebaut, um große Mengen russischen Erdgases direkt nach Deutschland durch die Ostsee zu liefern, besteht aus zwei Pipelines mit insgesamt vier Strängen. Am 26. September 2022 zerstörten Unterwasserexplosionen drei dieser Stränge – gigantische Methanwolken traten aus.
Nur eine Leitung – ein Strang von Nord Stream 2 – blieb unversehrt. Die dänische Energieagentur erlaubte dem Betreiber Anfang 2025, beschädigte Abschnitte mit Stopfen zu sichern, um den Zutritt von Meerwasser zu verhindern. Das war jedoch nur eine Schutzmaßnahme. Um Gas wieder durch die Röhren zu schicken, wären Inspektionen, Drucktests und wahrscheinlich komplexe Unterwasserreparaturen nötig.
Doch selbst wenn die Technik mitspielt: Eine Wiederinbetriebnahme wäre nach geltendem EU-Recht illegal. Die Europäische Union verabschiedete im Juli 2025 die Verordnung (EU) 2025/1494, die den neuen Artikel 5af in die bestehende Sanktionsverordnung (EU) 833/2014 einfügt. Dieser Artikel untersagt ausdrücklich jede Handlung zur Fertigstellung, Nutzung, Instandhaltung oder Wiederaufnahme der Nord-Stream-Pipelines – einschließlich Finanzierung, Zertifizierung, Klassifikation oder Charter von Spezialschiffen. Nur eng begrenzte Maßnahmen zum Umweltschutz sind erlaubt.
Deutschland hatte den Zertifizierungsprozess für Nord Stream 2 bereits im November 2021 gestoppt – lange vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte im Frühjahr 2025 erneut, dass Berlin verhindern werde, dass die Leitung jemals ans Netz geht. Unmissverständlich betonte er: „Wir werden in diesem Zusammenhang alles tun, damit Nord Stream 2 eben nicht wieder in Betrieb genommen werden kann.“ Damit ist der rechtliche Weg für Nord Stream faktisch versperrt.
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Deutschlands Gasrealität im Jahr 2025
Das Signal aus Moskau trifft auf ein Land, das seine frühere Abhängigkeit von russischem Erdgas hinter sich gelassen hat. Vor wenigen Jahren stammte mehr als die Hälfte der deutschen Gasimporte aus Russland, heute sichern vor allem Norwegen, Flüssigerdgas (LNG) und Einsparungen in Industrie und Haushalten die Versorgung. Damit ist Deutschland nicht mehr auf russische Lieferungen angewiesen.
- Verbrauch: Im Jahr 2024 lag der deutsche Gasverbrauch laut Bundesnetzagentur bei 844 TWh – 3,5 % mehr als im Vorjahr, aber immer noch 14 % weniger als im Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021.
- Speicher: Anfang Herbst 2025 waren die Gasspeicher zu rund 75 bis 77 % gefüllt – genug, um die EU-Vorgaben zur Versorgungssicherheit einzuhalten.
- Lieferanten: Heute ist Norwegen wichtigster Erdgas-Lieferant. Parallel hat Deutschland in Windeseile LNG-Terminals gebaut, die Lieferungen aus den USA, Katar und anderen Staaten aufnehmen.

Seit 1. Januar 2025 fließt zudem kein russisches Gas mehr über die Ukraine, da der Transitvertrag ausgelaufen ist. TurkStream ist nun der einzige direkte Kanal Russlands in die EU – ein Grund mehr, warum Nord Stream keine zentrale Rolle mehr spielt.
Parallel dazu einigten sich die EU-Energieminister am 20. Oktober 2025 politisch auf einen schrittweisen Ausstieg aus russischem Erdgas. Neue Importverträge sollen ab 2026 untersagt sein, bestehende Lieferverträge spätestens bis Anfang 2028 auslaufen. Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, doch der Kurs ist klar: Europa will sich vollständig von russischem Gas trennen.
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Klimabilanz der Explosionen 2022
Nord Stream ist nicht nur ein geopolitisches, sondern auch ein klimapolitisches Mahnmal. In der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Messungen mit Satelliten zeigten, dass bei den Explosionen 330.000 bis 480.000 Tonnen Methan entwichen – der größte einzelne Methanaustritt durch fossile Infrastruktur weltweit.
Methan (CH4) wirkt über 20 Jahre mehr als 80-mal so stark auf die Erderwärmung wie Kohlendioxid (CO2). Der größte Teil des Gases stieg direkt in die Atmosphäre; nur wenig löste sich im Wasser der Ostsee.
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Ermittlungen und politische Folgen
Die Behörden in Schweden und Dänemark stellten ihre Ermittlungen Anfang 2024 ein. In Deutschland läuft das Verfahren weiter – im Sommer 2025 nahmen Ermittler*innen in Italien einen ukrainischen Verdächtigen fest. Doch Mitte Oktober 2025 kippte Italiens Kassationsgericht die geplante Auslieferung nach Deutschland. Nur Tage später verweigerte auch ein polnisches Gericht die Auslieferung eines weiteren Beschuldigten und ordnete seine Freilassung an. Beide Entscheidungen erschweren die deutsche Ermittlungsarbeit erheblich.
Die Nordatlantische Allianz (NATO) und die Europäische Union (EU) bewerten die Sprengungen offiziell als Sabotage. Russland beschuldigt die USA, während die Ukraine jede Beteiligung bestreitet. Eine eindeutige Verantwortlichkeit gibt es bis heute nicht.
Nichtsdestotrotz pocht Kreml-Sprecher Dmitri Peskow auf eine Fortsetzung. „Die verbleibende Leitung ist vorhanden und kann tatsächlich sofort in Betrieb genommen werden“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters. An der Position der russischen Regierung unter Präsident Wladimir Putin zum Nord-Stream-Anschlag selbst habe sich ebenfalls nichts geändert: „Es ist offensichtlich, dass solche Maßnahmen seitens der Ukraine und des Kiewer Regimes ohne das Wissen der [Joe] Biden-Regierung in den USA unmöglich gewesen wären.“
Russlands Behauptung, Nord Stream könne „sofort“ wieder Gas liefern, ist derweil weniger ein technisches Versprechen als eine politische Botschaft. Für Moskau symbolisiert die Pipeline verlorenen Einfluss und zugleich eine mögliche Trumpfkarte im Verhältnis zu Europa. Für Berlin und Brüssel ist sie dagegen ein Relikt – beschädigt, sanktioniert und politisch verbrannt.
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Finanzierbarkeit & Haftung
Selbst jenseits der politischen und rechtlichen Sperren ist Nord Stream praktisch unversicherbar und damit nicht finanzierbar. Seit 2024 streiten Betreiber und Versicherer vor britischen Gerichten darüber, ob die Schäden als nicht gedeckte Kriegs- bzw. Sabotagerisiken gelten – die Versicherer verweigern bislang jede Deckung. Parallel läuft in der Schweiz die Entschuldungs- und Insolvenzodyssee der Nord Stream 2 AG weiter. Ohne belastbare Versicherung und Kapitalbasis bleiben auch konservatorische Arbeiten eine Hängepartie.
Zum anderen verbietet der seit Juli 2025 neu eingefügte Art. 5af der Verordnung (EU) 833/2014 – eingeführt durch VO (EU) 2025/1494– eingeführt durch Verordnung (EU) 2025/1494 – sind zudem sämtliche Transaktionen rund um Fertigstellung, Betrieb, Wartung und Nutzung von Nord Stream 1 und 2 verboten. Damit ist die Leitung auch formal ein Sanktionsobjekt.
Deutschland geht mit gut gefüllten Gasspeichern, einem diversifizierten Liefermix und verschärften EU-Regeln in den Winter 2025. Am 22. Oktober 2025 beschloss die EU zudem ihr 19. Sanktionspaket, das erstmals auch bestimmte LNG-Geschäfte umfasst – ein weiterer Schritt, um die Energieabhängigkeit von Russland dauerhaft zu beenden.
Solange die Sanktionen bestehen, bleibt Nord Stream ein toter Strang auf dem Meeresgrund. Die Geschichte der Pipeline wirkt jedoch nach – in den Gerichtssälen, in der Klimaforschung und in den Machtspielen zwischen Ost und West. Russlands jüngster Vorstoß zeigt: Auch stillgelegt behält Nord Stream Symbolkraft.
Quellen: Energistyrelsen; Amtsblatt der Europäischen Union; Die Bundesregierung; Bundesnetzagentur; „Methane emissions from the Nord Stream subsea pipeline leaks“ (Nature, 2025); Reuters
Hinweis: Ukraine-Hilfe
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