Deutschlands Energiesystem befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel – schneller, als die bestehenden Kraftwerksreserven Schritt halten können. Während die Bundesregierung Milliarden in den Bau neuer, mit Wasserstoff (H2) betriebener Gaskraftwerke investiert, stellt sich die Frage: Ist das wirklich der klügste und kosteneffizienteste Weg, die langfristige Stromversorgung zu sichern?
Eine mögliche Alternative bestünde darin, bestehende Kohlekraftwerke als Reservekraftwerke vorzuhalten, den Ausbau von Batteriespeichern massiv zu beschleunigen und den Stromverbrauch durch mehr Flexibilität auf der Nachfrageseite zu steuern. So ließen sich Erdgasimporte reduzieren, Stromkosten senken sowie Versorgungssicherheit und Klimaschutz besser miteinander vereinbaren.
Erst Erdgas, dann Wasserstoff
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWE) hat mit der sogenannten Kraftwerksstrategie einen klaren Plan: Es sollen rund 12,5 Gigawatt H2-ready Kraftwerksleistung sowie 500 Megawatt Langzeitspeicher ausgeschrieben werden. Ziel ist es, in Zeiten mit wenig Wind und Sonne genug gesicherte Leistung bereitzuhalten. Zunächst werden diese Kraftwerke allerdings mit Erdgas betrieben.
Ein neues Kraftwerkssicherheitsgesetz (KWSG) soll zudem einen Kapazitätsmechanismus einführen, der die Bereitstellung dieser Anlagen finanziell absichert.
Doch große Gaskraftwerke brauchen Zeit: Vom Planungsstart bis zur Inbetriebnahme vergehen in der Regel bis zu sechs Jahre. Gleichzeitig verpflichtet das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) Deutschland, bis 2045 treibhausgasneutral zu werden. Neue fossile Infrastrukturen müssen also spätestens dann entweder auf grünen Wasserstoff umgestellt oder stillgelegt werden.
Finanziert werden Bau und Betrieb dieser selten genutzten Kraftwerke über Steuergelder und Netzentgelte – und das bedeutet: Haushalte am Ende die Rechnung, zum Beispiel über steigende Umlagen und Strompreise.
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Stattdessen Kohle? Der Klimavorteil hängt am Methan
Ein zentrales Argument für neue Gaskraftwerke ist, dass sie pro Kilowattstunde weniger Kohlendioxid (CO2) ausstoßen als Kohlekraftwerke. Doch dieser Vorteil schrumpft deutlich, wenn man Methanverluste entlang der gesamten Lieferkette berücksichtigt. Laut dem Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) aus dem Jahr 2021 ist Methan über einen Zeitraum von 20 Jahren 82 bis 85 Mal klimaschädlicher als Kohlendioxid. Über 100 Jahre beträgt das Treibhauspotenzial immer noch etwa 27 bis 30.
Daten der Internationalen Energieagentur (IEA) zeigen, dass Leckagen bei Förderung, Transport und insbesondere beim Import von Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) den Klimavorteil von Erdgas gegenüber Kohle stark verringern oder sogar vollständig aufheben können.
Die Europäische Union hat zudem eine neue Methan-Verordnung (EU) 2024/1787 beschlossen: Ab 2030 gelten verbindliche Methanintensitätsgrenzen für Öl- und Gasimporte. Zudem verbietet sie weitgehend routinemäßiges Abfackeln und Ablassen von Methan. Damit könnte der Klimafußabdruck von Erdgas künftig sinken – vorausgesetzt, die Regeln werden konsequent umgesetzt.
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Kohlekraftwerke als Reserve
Der Berliner Energieprofessor Volker Quaschning schlägt in seiner aktuellen Kolumne für Klimareporter einen alternativen Weg vor: Statt neue Gaskraftwerke zu bauen, sollten bestehende Kohlekraftwerke in eine Reserve überführt werden. Diese Reserve würde nur in seltenen Winterphasen mit wenig Wind und Sonne – den sogenannten Dunkelflauten – zum Einsatz kommen.
Deutschland hat ein solches Instrument bereits:
Die Netzreserve sowie die temporäre Kohlereserve in den Jahren 2022 bis ’24 haben während der Gaskrise gezeigt, dass diese Strategie technisch machbar ist.
Statt neue Kraftwerke zu bauen, würde man bestehende Anlagen nutzen, die ohnehin in den nächsten Jahren stillgelegt werden. Das spart Milliarden an Investitionskosten, was wiederum die finanzielle Belastung für Haushalte senken kann.
Allerdings gibt es klare Grenzen: Kohle stößt pro erzeugter Kilowattstunde mehr CO2 und Luftschadstoffe aus als Erdgas. Eine dauerhafte Kohlereserve müsste strengen Emissions- und Einsatzregeln unterliegen und einen verbindlichen Ausstiegszeitplan haben, um Klimaziele und EU-Recht einzuhalten.
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Speicher und flexible Verbraucher
Vielleicht das stärkste Gegenargument gegen neue Gaskraftwerke: Batteriespeicher und Flexibilitätsoptionen wachsen rasant. „Lasst uns besser viele Batteriespeicher bauen“, empfiehlt auch Quaschning. „Das geht viel schneller als Erdgaskraftwerke. Im Sommer können wir so auf fossile Backup-Kraftwerke bald ganz verzichten.“
Im Jahr 2024 lag der Anteil erneuerbarer Energien am öffentlichen Nettostromverbrauch bereits bei rund 63 Prozent. Gleichzeitig wuchs die installierte Batteriespeicherkapazität um etwa 50 Prozent – rund 600.000 neue Speicheranlagen in Haushalten, Gewerbe und Industrie wurden installiert. Großbatteriespeicher können meist innerhalb von Monaten bis zwei Jahren errichtet werden – also deutlich schneller als neue thermische Kraftwerke.
Elektroautos, Wärmepumpen und Heimspeicher könnten zudem bis Anfang der 2030er Jahre einen erheblichen Teil des Stromverbrauchs flexibel verschieben. Eine Analyse von Agora Energiewende und dem Forschungsinstitut für Energiewirtschaft (FfE) aus dem Jahr 2023 zeigt, dass dadurch Lastspitzen sinken, was wiederum Großhandels- und Netzkosten reduziert. Voraussetzung ist, dass dynamische Stromtarife, eine flächendeckende Smart-Meter-Einführung und die Bündelung der Flexibilität von Haushalten durch Aggregatoren ermöglicht werden.
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Potenzial für sinkende Kosten
Trotz wachsender Anteile erneuerbarer Energien bleibt die Zuverlässigkeit des deutschen Stromnetzes sehr hoch. Offizielle Daten der Bundesnetzagentur zeigen keine Verschlechterung der Versorgungsqualität – die Bundesrepublik zählt weiterhin zu den Ländern mit den wenigsten Stromausfällen weltweit. Indem Deutschland auf schnell ausbaubare Speicher, verbrauchsseitige Flexibilität und eine begrenzt genutzte Kohlereserve setzt, ließe sich Versorgungssicherheit gewährleisten, ohne teure Überkapazitäten an Erdgaskraftwerken aufzubauen.
Das Ergebnis:
Niedrigere Systemkosten, weniger unnötige Investitionen – und eine spürbare Entlastung für private Haushalte und kleine Unternehmen.
Deutschland steht damit an einem energiepolitischen Scheideweg. Es kann Milliarden in neue Kraftwerke investieren, die womöglich nur wenige Jahre mit fossilem Erdgas laufen, bevor sie teuer auf Wasserstoff umgestellt oder stillgelegt werden müssen. Oder es kann die nächsten zehn Jahre klug überbrücken: mit gezielter Kohlereserve, einem massiven Ausbau von Batteriespeichern und mehr Flexibilität bei Verbraucher*innen – während gleichzeitig wirklich saubere, flexible Wasserstoffkraftwerke für die 2040er Jahre entstehen.
Quellen: „Climate Change 2021: The Physical Science Basis“ (IPCC, 2021); „Assessing Emissions from LNG Supply and Abatement Options“ (IEA, 2025); Amtsblatt der Europäischen Union; Klimareporter; „Haushaltsnahe Flexibilitäten nutzen. Wie Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Co. die Stromkosten für alle senken können“ (Agora Energiewende, 2023); Bundesnetzagentur
Hinweis: Ukraine-Hilfe
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