Der Abschied von fossilem Erdgas zählt zu den entscheidenden Weichenstellungen der deutschen Energiepolitik. Die Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz plant den Bau von rund 50 neuen Gaskraftwerken, die alle „H2-ready“ sein sollen – also später auf klimafreundlichen Wasserstoff umgestellt werden können. Doch die Vorgaben der Europäischen Union setzen diesem Vorhaben enge Grenzen.
EU will Wasserstoff „grün“ machen
Eine aktuelle Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) zeigt, dass diese Vorgaben zur Herstellung grünen Wasserstoffs die Kosten spürbar erhöhen und die praktische Umsetzung erschweren des Vorhabens könnten.
Laut den Berechnungen der Forscher*innen verteuern die sogenannten RFNBO-Kriterien Renewable Fuels of Non-Biological Origin (RFNBO)-Kriterien die Wasserstoffproduktion in Deutschland um bis zu 20 Prozent. Auf europäischer Ebene liegt der Anstieg im Mittel bei etwa acht Prozent. Die Konsequenzen sind weitreichend: Was politisch als technischer Übergang gedacht war droht wirtschaftlich schwer kalkulierbar zu werden.
Die Regeln, um Wasserstoff als „grün“ ausweisen zu dürfen, sind in der Delegierten Verordnung (EU) 2023/1184 festgelegt, die bereits seit Juli 2023 gilt. Sie setzt den Rahmen für alle Produzenten, die ihren Wasserstoff als erneuerbar deklarieren und damit von Förderprogrammen oder Quotenregelungen profitieren wollen.
Kern der Verordnung sind drei Bedingungen:
- Zusätzlichkeit: Der Strom für die Elektrolyse muss aus neu errichteen Anlagen stammen, die nicht auf staatliche Förderung angewiesen sind. Bestehende Wind- oder Solarkapazitäten dürfen nicht „umgeleitet“ werden.
- Zeitliche Korrelation: Stromerzeugung und Wasserstoffproduktion müssen zeitlich zusammenfallen. Bis Ende 2029 reicht eine monatliche Übereinstimmung, ab 2030 gilt die schärfere stündliche Korrelation.
- Geografische Korrelation: Erzeugung und Nutzung müssen innerhalb derselben Stromgebotszone erfolgen oder in Zonen, die physikalisch verbunden und preislich gleichgestellt sind.
Die Vorgaben sollen sicherstellen, dass die Elektrolyse den Strommix nicht zusätzlich belastet und die erzeugten Mengen tatsächlich klimaneutral sind. In der Praxis bedeuten sie jedoch: Wasserstoff darf künftig nur dann als „grün“ gelten, wenn er in den Stunden produziert wird, in denen auch tatsächlich genügend erneuerbarer Strom verfügbar ist.
Ein systemischer Spagat
Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit analysierten Dr.-Ing. Ann-Kathrin Klaas und ihr Team am EWI, wie sich die EU-Regeln auf die Wirtschaftlichkeit der Wasserstoffproduktion auswirken. Die Forscher*innen zogen dazu zwei Modelle herbei:
- SOPHIAA, einem neuen Optimierungsmodell, das einzelne Elektrolyseprojekte in Deutschland im Detail abbildet, inklusive Power-Purchase-Agreements (PPA), Wetterrisiken und Preisschwankungen.
- HYEBRID, einem Energiesystemmodell, das den europäischen Strom- und Wasserstoffmarkt simuliert und die Effekte der EU-Kriterien auf Strompreise, Kohlendioxid (CO2)-Zertifikate und Produktionskosten untersucht.
Die Ergebnisse des Teams zeigen einen klaren Zielkonflikt zwischen Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit. Während das System insgesamt von den strengen Regeln leicht profitiert – etwa durch sinkende Großhandelspreise für Strom und CO2-Zertifikate – geraten einzelne Projekte unter Druck.
Im europäischen Durchschnitt steigen die Grenzkosten der Wasserstoffproduktion um rund acht Prozent beziehungsweise etwa 10 Euro je Megawattstunde. In Deutschland sind die Auswirkungen stärker: Für ein typisches Elektrolyseprojekt ergeben sich laut EWI bis zu 20 Prozent höhere Kosten, wenn die stündliche Korrelation gilt.
Besonders teuer ist der Übergang von täglicher zu stündlicher Korrelation. „Die Verschärfung auf Stundenbasis hat den größten Einfluss auf die Kosten“, erklärt Klaas. Ursache ist, dass die Anlagen häufiger stillstehen oder zusätzliche Stromspeicher benötigen, um die Stundenlücke zwischen Erzeugung und Nutzung zu überbrücken.
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Folgen für die Strategie der Regierung
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWE) verfolgt das Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Dazu sollen neue Gaskraftwerke zunächst Erdgas nutzen, aber ab Mitte der 2030er-Jahre auf Wasserstoff umgerüstet werden. In der bislang nicht vollständig ausgearbeiteten Kraftwerksstrategie der Bundesregierung sind dazu mehrere Ausschreibungsrunden geplant, insgesamt mit einer Leistung von rund 10 Gigawatt.
Doch der EWI-Befund trifft die Planung ins Mark. Denn wenn die Brennstoffkosten für grünen Wasserstoff um ein Fünftel steigen, verändern sich Wirtschaftlichkeit und Investitionsreihenfolge der gesamten Umrüstung. Kraftwerksbetreiber müssten künftig deutlich höhere Preise einkalkulieren – oder längere Übergangsphasen mit fossilem Gas akzeptieren.
Hinzu kommt: Der Wasserstoff, der in Deutschland künftig eingesetzt werden darf, muss den EU-Nachweis der RFNBO-Konformität erbringen. Das schränkt Importe ein, erschwert Zertifizierung und erhöht den bürokratischen Aufwand. Für die Energiewirtschaft bedeutet das laut EWI einen erheblich höheren Koordinationsaufwand zwischen Strom- und Wasserstoffmarktakteuren.
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Mehr Klimaschutz, aber auch mehr Komplexität
Die Zielrichtung der EU ist klar: Strenge Regeln sollen verhindern, dass Wasserstoffproduktion ungewollt fossile Energiequellen stützt. Eine 2024 veröffentlichte Studie der Technischen Universität Berlin und eine Arbeit des Leibnitz-Informationszentrums Wirtschaft aus dem Jahr 2022 zeigen, dass zu lockere Definitionen von „grünem“ Wasserstoff zu höheren indirekten Emissionen führen können.
Doch die Kölner Analyse betont, dass die Regeln auch neue Risiken schaffen: Elektrolyseure müssen nicht nur flexibel auf Strompreise reagieren, sondern auch auf Wetter- und Prognoseunsicherheiten. Power-Purchase-Agreements werden komplexer, da sie das Zeitmatching einhalten müssen. Ohne zusätzliche Flexibilitätsinstrumente – etwa Batteriespeicher oder Wasserstoffkavernen – könnten viele Projekte unrentabel werden.
Im Extremfall führt die Regelung dazu, dass Elektrolyseure Stromüberschüsse aus Wind- oder Solaranlagen nicht effizient nutzen können, weil der Strom in der falschen Stunde anfällt. „Der Kostenanstieg bei Wasserstoffproduktion ist darauf zurückzuführen, dass diese Erneuerbare-Energien-Anlagen ausschließlich für die Wasserstoffproduktion aufgebaut werden und somit Synergien mit dem Strommarkt ungenutzt bleiben“, so die EWI-Forscherin Klaas.
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Zwischen Anspruch und Realität
Für die Merz-Regierung, die den schnellen Ausbau von Gaskraftwerken als Garant für Versorgungssicherheit präsentiert, wird die Umsetzung schwieriger. Wenn grüner Wasserstoff teurer und weniger planbar wird, drohen Verzögerungen beim Erdgas-Ausstieg. Energieökonomisch ist das eine heikle Situation: Einerseits verlangen Klimaziele und EU-Recht den Umstieg auf erneuerbare Brennstoffe, andererseits sinkt die Rentabilität genau dieser Technologie. Für Investor*innen wächst das Risiko, für Betreiber*innen die Unsicherheit.
Das EWI warnt deshalb vor einer zu einseitigen Fixierung auf formale Kriterien. In den Modellen zeigt sich zwar eine leichte Entlastung der Strommärkte, aber keine deutliche Emissionsminderung im Gesamtsystem. Der Preis dafür: geringere Auslastung von Elektrolyseuren und höhere Kapitalkosten.
Die europäische Wasserstoffpolitik zielt auf Klimaintegrität – und erreicht sie. Doch eine Studie aus Köln zeigt: Der Weg dorthin wird kostspielig. Für die deutsche Energiepolitik ergibt sich daraus ein Dilemma: Entweder sie hält an den strengen RFNBO-Kriterien fest und riskiert Verzögerungen beim Ausstieg aus Erdgas, oder sie öffnet den Weg für flexiblere Übergangslösungen – etwa durch Speicher- oder Hybridmodelle.
Sicher ist: Der politische Anspruch, in wenigen Jahren vom Erdgas auf grünen Wasserstoff umzuschalten, ist durch die neuen EU-Regeln ambitionierter denn je. Die EWI-Studie macht deutlich, dass die technische und wirtschaftliche Realität dem politischen Zeitplan kaum folgen kann.
Quellen: „Green hydrogen production under RFNBO criteria: Analyzing the system and business case perspective“ (EWI, 2025); Amtsblatt der Europäischen Union; „Temporal regulation of renewable supply for electrolytic hydrogen“ (Environmental Research Letters, 2024); „Flexible green hydrogen: The effect of relaxing simultaneity requirements on project design, economics, and power sector emissions“ (Energy Policy, 2022)
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