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Nokia 3310 im Test: Retro ist nicht immer gut

Das meistverkaufte Handy aller Zeiten ist zurück. Allerdings ist die Neuauflage des einst so beliebten Telefons so weit vom Original entfernt, dass statt Freude eher Frust aufkommt.

Das Nokia 3310 bietet wenig Retro für viel Geld. Foto:

Fette Antenne, winziges Display, Klapp-Abdeckung für die Tasten: Auch heute kann ich mich noch besonders lebhaft an mein erstes Handy erinnern. Mit dem Sagem MC 939 wurde ich 2000 über Nacht Teil der Handy-Generation. Die technischen Daten erscheinen nach heutigen Maßstäben lächerlich – magere 200 Kontakte fanden auf dem Handy-Speicher Platz und alle paar Wochen musste ich SMS löschen – doch ich war endlich rund um die Uhr erreichbar.

Heute werden bei Mobiltelefonen andere Maßstäbe angesetzt, die Standards von vor 15 Jahren würden heutzutage nicht einmal Budget-Smartphone-Nutzern ausreichen. Dennoch löste die Reinkarnation des Nokia 3310, einem der meistverkauften Handys aller Zeiten, im Februar einen wahren Retro-Hype aus. Plötzlich erinnerte sich jeder wehmütig an den fast unzerstörbaren “Knochen” mit einer Woche Akkulaufzeit und Snake. Doch kann man im Jahr 2017 noch mit einem herkömmlichen Handy ohne Apps, LTE oder einer brauchbaren Kamera “überleben”? Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht und eine Woche mein Smartphone gegen ein neues Nokia 3310 getauscht.

Revival der Tasten

Das Design des ersten Nokia 3310 war unverkennbar, bereits aus der Ferne konnte man das unverwüstliche Handy leicht erkennen. Optisch weist die neue Generation kaum Ähnlichkeiten mit dem Original auf – was allerdings auch seine Vorteile hat. Statt der stark erhobenen, leicht schwammigen Tasten, setzt man nun auf flache und beleuchtete Tasten mit angenehm harten Druckpunkt. Durch das Menü navigiert man mit einem D-Pad statt der Wippe des Originals. Zudem gibt es zwei Menütasten, mit denen der Benutzer auch einen Anruf starten oder auflegen kann.

Bereits zu Beginn ist mir ein dummes Missgeschick passiert: Ich habe das Handy nichtsahnend in die Hosentasche gesteckt und versehentlich dabei einen Freund angerufen. Während die sogenannten “Buttcalls” im Smartphone-Zeitalter nahezu unmöglich sind, muss man bei klassischen Handys weiterhin eine Tastensperre aktivieren. Diese ist beim 3310 gut versteckt: Man muss auf Auflegen und anschließend die Menütaste für “Sperren” betätigen.

Die Front wird vom 2,4 Zoll großen Bildschirm dominiert, der das fünfzeilige Monochrom-Display des Originals geradezu winzig erscheinen lässt. Von rahmenlos ist Nokia weit entfernt, allerdings kaschiert man mit dem verspielten Design die scheinbar ungenutzte Fläche relativ gut. Optisch mag die Neuauflage durchaus ansprechend und modern sein, doch in puncto Verarbeitung hinkt es dem Original weit hinterher. Das Handy ist mir mehrmals versehentlich aus der Hand gefallen und hat die Stürze auf weichen Holz- und Teppichboden unbeschadet überstanden – doch das hätten die meisten modernen Smartphones auch.

Handy mit geringer Widerstandsfähigkeit

Während dem Original-3310 geradezu Chuck-Norris-ähnliche Kräfte nachgesagt wurden (vom Hammer bis zum Bieröffner wurde das Handy missbraucht), macht die Verarbeitung des neuen 3310 einen eher durchschnittlichen Eindruck. Die Widerstandsfähigkeit des Handys sollte wohl nicht zu sehr auf die Probe gestellt werden, denn selbst im normalen Zustand klappert und knarzt die abnehmbare Rückseite und offenbart große Spaltmaße, in denen sich Dreck sammeln kann.

Zudem sind weder Kameralinse noch Bildschirm von Gorilla Glass oder anderen kratzfesten Beschichtungen geschützt. Bereits nach einer Woche waren zudem auf der Rückseite kleine Kratzer erkennbar. Obwohl das neue 3310 eine ähnliche Fläche einnimmt (aufgrund des größeren Bildschirms wirkt es lediglich wuchtiger), ist es knapp 50 Gramm leichter. Das ist auch auf die deutlich schlankere Bauweise zurückzuführen: Statt 22 ist es lediglich 12,8 Millimeter dünn.

Wer von einem 5,5-Zoll-Smartphone auf diesen Zwerg wechselt, benötigt etwas Zeit, um sich an die kompakten Maße zu gewöhnen. Doch bereits nach wenigen Minuten möchte man die Tatsache, dass das komplette Handy in der Handfläche Platz hat, nicht mehr missen. Das Gerät kann problemlos beim Tippen mit einer Hand gehalten werden, ohne dass man fürchten muss, dass es versehentlich wegrutscht. Auch in der Hosentasche findet das Nokia 3310 problemlos Platz.

Ersatzgerät statt Reparatur

Der microSIM- und microSD-Kartenschacht befindet sich unter der Abdeckung. Diese sind zudem nur zugänglich, wenn der Akku herausgenommen wird. Wir konnten das Dual-SIM-Modell testen, bei dem sich der microSD-Kartenschacht direkt über dem Einschub für die SIM-Karte befindet. Das Entnehmen und Einschieben ist unerwartet mühsam und erfordert hin und wieder einen Stift oder ein anderes spitzes Objekt, um die Karte richtig zu positionieren. Die Abdeckung lässt sich relativ leicht abnehmen, Werkzeug ist keines erforderlich.

Wasser- oder staubdicht ist das Handy nicht, Reparaturen können ebenfalls nicht vorgenommen werden. Die Rückseite wird zwar nur von einigen Torx-Schrauben gesichert, doch es gibt keinerlei Ersatzteile. Nokia bietet selbst ein Austauschgerät an, falls das alte Gerät (innerhalb des Garantiezeitraumes) kaputt gehen sollte, eine Reparatur macht sich aufgrund der niedrigen Herstellkosten einfach nicht bezahlt.

Software ist optisch auf dem gleichen Stand geblieben

Beim Einschalten hat man bereits das Gefühl, die Zeit wäre stillgestanden. Nicht weil der Boot-Vorgang so lange dauern würde (es startet erstaunlich flott), sondern weil die Software genauso aussieht wie vor zehn Jahren. Nokia hat das von MediaTek entwickelte Series 30+ installiert, das auch bei anderen Handys des Herstellers zum Einsatz kommt. Mit dem bekannten Symbian S40 und S60 hat es jedoch nur entfernt zu tun. Hier macht sich auch gleich das erste Problem bemerkbar: Bekannte Symbian-Apps, wie jene von WhatsApp, werden nicht unterstützt, weil das Betriebssystem auf ein anderes Java-Framework setzt.

Die Bedienung des Betriebssystems ist intuitiv, zumindest wenn man schon einmal ein Handy in Händen gehalten hat (ich habe ernsthafte Zweifel, ob nach 2000 geborene Kinder und Jugendliche noch mit einem Handy ohne Touchscreen umgehen können). Auf die Funktionen des Handys hat man über ein drei mal drei Icons großes Raster Zugriff, wobei die Piktogramme oft etwas schwer voneinander zu unterscheiden sind.

Zu langsam für die eigenen Apps

Da kann man fast schon von Glück sprechen, dass es fast keinerlei Apps für das System gibt. Über den integrierten App Store lassen sich eine Handvoll von Apps, darunter Facebook, Twitter und der Facebook Messenger, herunterladen. Aber da das 3310 ohnedies nur im GSM-Netz funkt, ist die Bandbreite bereits für diese Plattformen zu langsam – eine EDGE-Datenverbindung erreicht üblicherweise 100 bis 200 kbit/s, wobei selbst diese Werte im Test nur selten erreicht wurden. So dauerte es meist eine oder gar zwei Minuten, bis aktuelle Facebook-Postings oder der Nachrichtenverlauf im Messenger geladen waren. Beim Surfen über den mitgelieferten Browser Opera Mini bot sich ein ähnliches Bild, viele Websites benötigten mehrere Minuten, bis sie vollständig geladen waren – auch die mobilen Versionen.

Die Investition in eine Speicherkarte lohnt sich trotz App-Mangel aber dennoch, wenn man auf Musik angewiesen ist. Da es keine Spotify-App gibt, bleiben lediglich die Musik- und die Radio-App als letzte Zuflucht. Das FM-Radio ist gut gelungen und ermöglicht das Speichern von Lieblingssendern, in der U-Bahn oder der Schnellbahn muss man jedoch hin und wieder mit Ausfällen rechnen. Die Musik-App ist hingegen eher spärlich ausgestattet. Playlists sucht man vergeblich, dafür kann man Lieblingstitel markieren und einzelne Titel als Klingelton einstellen.

Über die Kamera des Nokia 3310 verliert man besser kein Wort

Für raschen Speichermangel sorgt hingegen die Kamera. Denn ein Großteil der 16 Megabyte Speicher sind von internen Apps und dem Betriebssystem belegt. Bereits nach fünf Fotos war im Test Schluss, die Videoaufnahme war ohne Speicherkarte nur wenige Sekunden lang möglich (abhängig vom Motiv). Über die Qualität der Aufnahmen sollte man eher den Mantel des Schweigens ausbreiten. Für ein Foto von einer Notiz mag es ausreichen, größer als ein Post-it sollte sie jedoch nicht sein. Die 2-Megapixel-Aufnahmen sind nur bei Tag brauchbar, bei Nacht fotografiert man lediglich tiefstes Schwarz oder braunen Matsch.

Für den beruflichen Einsatz disqualifiziert sich das 3310, weil es keine Möglichkeit gibt, E-Mail und Kalender zu synchronisieren. Es gibt zwar eine Kalender-App, die Termine werden aber nur lokal am Handy gespeichert. Kleine Hilfsmittel für den Alltag: Notiz- und Sprachrekorder-App sowie Wecker, Wetter und Taschenrechner. Das Highlight zum Schluss: Snake, das absurderweise bei deutscher Oberfläche “Schlange” heißt. Mit dem Kultklassiker hat der von Gameloft entwickelte Titel nichts mehr zu tun. Man schlängelt sich durch verschiedene Levels und muss Äpfel einsammeln, um das Tor zur nächsten Ebene freizuschalten. Solide, aber die wahren Nokia-Fans dürften damit wohl wenig anfangen können.

Erfreuliche Akku-Leistung

Doch genug gejammert, denn das wahre Highlight ist wohl die Laufzeit. Das genügsame Handy, das bereits nach wenigen Sekunden den Bildschirm deaktiviert, hielt im Test bei häufiger Nutzung rund fünf Tage ohne Laden durch, genügsame Nutzer dürften wohl auch eine ganze Woche schaffen. Der wechselbare 1200-mAh-Akku lässt sich zudem besonders rasch laden, das mitgelieferte microUSB-Ladegerät füllte ihn binnen einer Stunde komplett. Und auch das Tippen mit Hardware-Tasten (auch wenn man auf T9 angewiesen ist) ging nach einer kurzen Eingewöhnungsphase erfrischend schnell vonstatten. Mit Touch ist man zwar nach wie vor schneller, doch die Haptik der Tasten in Kombination mit den kleinen Maßen des Handys ist eine erfrischende Abwechslung.

Fazit: Teurer Spaß ohne den Original-Flair

Das Nokia 3310 ist eine maßlose Enttäuschung. Aus technischer Sicht ist es ein makelloses Handy, das seinen Zweck gut erfüllt. Nokia kann nichts an der Tatsache ändern, dass nach dem Smartphone-Hype die technische Entwicklung von herkömmlichen Handys weitestgehend stehen geblieben ist. Was man dem Unternehmen aber durchaus vorwerfen kann, ist das maßlose Ausschlachten früherer Erfolge. Der Hype um die Neuauflage des 3310 entstand nur, weil das Original dermaßen viele zufriedene Nutzer hatte. Mit dieser Billigkopie, die mit Ausnahme einer schlechten “Snake”-Neuauflage nichts mit dem Original zu tun hat, versucht man lediglich treuen Fans das Geld aus der Tasche zu ziehen. Bereits mit wenigen Anpassungen hätte man den relativ unverschämten Kaufpreis von 60 Euro rechtfertigen können – Nintendo hat mit der NES Mini schon vorgemacht, wie man Retro richtig machen kann.

Wer ein einfaches Handy benötigt, bekommt bereits für unter 30 Euro Geräte, beispielsweise das Nokia 105 (rund 25 Euro), das jedoch auf eine Kamera verzichtet, aber ebenfalls über Dual-SIM und UKW-Radio verfügt. Etwas mehr Akkuleistung bietet das Nokia 130 (rund 30 Euro).

Das Nokia 3310 wurde von A1 für den Testzeitraum zur Verfügung gestellt. Der Mobilfunker bietet das Handy im freien Verkauf sowie mit Tarif an.

Modell:

  • Nokia 3310 (2017)

Display:

  • 2,4 Zoll LC-Bildschirm (QVGA, 240 mal 320 Pixel; 166 dpi)

Prozessor:

  • nicht bekannt

RAM:

  • nicht bekannt

Speicher:

  • 16 MB intern, microSD-Kartenslot

Betriebssystem:

  • Series 30+

Anschlüsse/Extras:

  • microUSB, Bluetooth, FM-Radio, Bluetooth 3.0; Dual-SIM

Akku:

  • 1200 mAh

Kamera:

  • 2 Megapixel (LED-Blitz)

Videos:

  • Aufnahme möglich

Maße:

  • 115,6 x 51 x 12,8 mm, 79,6 Gramm

Preis:

  • rund 50 Euro

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf futurezone.at.

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