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Prothesen: Damals Holzpflöcke, heute Roboter-Technologie

Der Ersten Weltkrieg sorgte dafür, dass viele Soldaten und Bürger ihre Arme oder Beine verloren und auf Prothesen angewiesen waren. Die Anfrage war so hoch, dass daraus ein eigener Zweig entstand: die Prothetik.

Die Finger der Michelangelo Hand des Prothesenherstellers Otto Bock lassen sich bewegen. Foto:

Zu Hunderttausenden kehrten die Versehrten in den Jahren zwischen 1914 und 1918 von der Front zurück ins damalige Deutsche Reich. Entstellte, Verkrüppelte, Amputierte. Unzählige Schwerstverletzte ohne Arme, Beine, Hände und Füße mussten medizinisch versorgt werden.

Der Erste Weltkrieg, geführt mit Waffen mit bis dahin nie da gewesener Zerstörungskraft, geriet zur Triebfeder der modernen Prothetik: Wurden fehlende Gliedmaßen zu Kriegsbeginn noch durch einfache Holzkonstruktionen ersetzt, lassen sich heute Prothesen kraft der Gedanken steuern. Die moderne Prothetik führt Spitzensportler zu Höchstleistungen und lässt Entwickler davon träumen, Prothesenträger fühlen zu lassen, was sie berühren.

Bestnoten vom Kunsthandwerker

Schon seit jeher versucht der Mensch körperliche Einschränkungen auszugleichen, indem er Natur durch Technik ersetzt. Gerade erst untersuchten Basler Forscher den fast 3000 Jahre alten Holzzeh einer ägyptischen Priestertochter, sie erteilten dem Kunsthandwerker Bestnoten in Ästhetik und Tragekomfort.

Berühmt ist auch die Eiserne Hand des Ritters Götz von Berlichingen aus dem 16. Jahrhundert, deren Finger mithilfe einer Mechanik Gegenstände greifen konnten.

Während des Ersten Weltkrieges entwickelte der Chirurg Ferdinand Sauerbruch eine Prothese für versehrte Soldaten, den Sauerbruch-Arm. Der Chirurg steckte einen Elfenbeinstab durch den Bizeps, der Stumpf und Prothese verband. Durch die Kontraktion des Muskels bewegte sich der künstliche Arm. Ein Durchbruch in der Prothetik, denn zum ersten Mal ersetzte eine Prothese tatsächlich auch die Funktion des verlorenen Gliedmaßes.

Otto Bock entwickelt ein Baukastensystem

„In den USA werden Patienten zum Teil noch immer mit der Sauerbruch-Technik behandelt“, sagt Professor Oskar Aszmann, Chirurg an der Medizinischen Universität Wien. „Trotz immenser Fortschritte in der Prothetik bevorzugen einige Patienten die einfache Logik dieses Verfahrens.“ Der Träger spannt den Muskel an, der Kunstarm bewegt sich. Einer, der den großen Bedarf an künstlichen Gliedmaßen in den Nachkriegsjahren erkannte, war Otto Bock. Er gründete 1919 in Berlin die Orthopädische Industrie GmbH und veränderte die Prothesenversorgung grundlegend: War es bis dahin üblich, Prothesen als komplette Einzelstücke anzufertigen, entwickelte Bock eine Art Baukastensystem. Verschiedene sogenannte Passteile konnten zu einer Prothese zusammengeführt werden. „Das sparte viel Zeit. Die Menschen waren viel schneller wieder einsatzfähig“, sagt Rüdiger Herzog von der Otto Bock HealthCare GmbH. Dieses Baukastensystem ist geblieben. Nur aus Holz wurde Hightech.

Vor hundert Jahren wurden Prothesen von Polsterern gebaut

Heute gibt es Berufsbilder, die sich allein mit Prothetik befassen. „Noch vor hundert Jahren wurden Prothesen von Landmaschinentechnikern, Polsterern und Sattlern so nebenbei hergestellt“, sagt Christian Hartz. ist Orthopädietechniker-Meister und baut seit 30 Jahren künstliche Gliedmaßen, unter anderem für Patienten des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB). „Wir sind so weit, dass manch ein Prothesenläufer einem Nichtamputierten kaum mehr unterlegen ist.“ Die Ursache für eine Amputation in Deutschland ist in den meisten Fällen eine sogenannte periphere Durchblutungsstörung, die etwa durch Diabetes oder Arteriosklerose entstehen kann. Dabei ist die Blutversorgung der Arme und Beine gestört. Rund vier Prozent der Amputationen gehen auf Unfälle zurück, alle anderen auf Tumorerkrankungen oder Geburtsfehler.

Paralympische Medaillengewinner dienen als Vorbild

Welche Prothese für den Amputierten die richtige ist, ist Ergebnis langer Gespräche zwischen Chirurg, Orthopädietechniker, Amputiertem und Angehörigen. „Gemeinsam entwickeln wir ein Zukunftsszenario“, sagt Hartz. Es gehe darum, soziale Teilhabe auf Basis der individuellen Lebenssituation zu ermöglichen. Denn obwohl die technischen Möglichkeiten heute immens sind, ist Hightech nicht für jeden die beste Wahl. „Wir sind alle sehr technik- und fortschrittsgläubig“, sagt Hartz. Vielen Amputierten dienen paralympische Medaillengewinner als Vorbild – „das ist utopisch“. „Ganz plakativ gesprochen: Jemand, der sein Leben lang gerne auf dem Sofa gelegen hat, wird wegen einer Hightech-Prothese nicht am Marathon teilnehmen“, sagt Hartz.

Durch Muskelkontraktion entsteht elektrische Spannung

Viele der heute eingesetzten Armprothesen basieren auf einem Prinzip, das bereits in den 60er-Jahren entwickelt wurde, die sogenannte Myoelektrik: Möchte der Mensch eine Bewegung machen, sendet das Gehirn über die Nervenbahnen ein Signal an den entsprechenden Muskel im Stumpf, das diesen dann aktiviert. Bei der Kontraktion entsteht im Muskel eine elektrische Spannung, die auf der Haut abgelesen werden kann. Elektroden übertragen die Spannung auf die Prothese, sie bewegt sich. Otto Bock brachte die erste myoelektrische Prothese auf den Markt. Das Unternehmen war auch an der Entwicklung des Verfahrens beteiligt, das zurzeit den Höhepunkt der Innovation bildet: die intuitive Prothese.

Nerven werden an einen anderen Ort verlegt

Bei der sogenannten Targeted Muscle Reinnervation (TMR) erhalten durch die Amputation funktionslos gewordene Nerven wieder eine Aufgabe, indem sie an einen anderen Ort verlegt werden. „Im Stumpf des Patienten sind wichtige Informationsquellen vorhanden – nur kommen die Informationen nirgendwo an. Die Nerven enden in einer Narbe“, sagt Oskar Aszmann. Bei einem Oberarmamputierten etwa verpflanzt der Chirurg die Nerven in den Brustmuskel, wo sie innerhalb mehrerer Wochen einwachsen. Denkt der Patient ‚Ich bewege meinen kleinen Finger‘, kontrahiert der Brustmuskel an einer bestimmten Stelle, der kleine Finger bewegt sich. Stück für Stück kann so ein komplexes Muster der Prothesenbewegung generiert werden. „Das ist die bahnbrechendste Veränderung in der Prothetik seit dem Ende des Ersten Weltkrieges“, sagt Aszmann, der an einem der wenigen europäischen Zentren arbeitet, die TMR einsetzen.

Die Resensibilisierung steckt noch in den Kinderschuhen

„Ich habe unsere Entwickler damals gefragt: ‚Was soll denn jetzt nach TMR noch kommen?‘“, erinnert sich Rüdiger Holzer von der Firma Otto Bock. Die Entwickler sagten ihm: Greifen, den Arm drehen oder beides zeitgleich sei eine Sache – aber das Fühlen, Sensibilität in den Fingern, eine andere. Diese sogenannte Resensibilisierung steckt noch in den Kinderschuhen. Wie ist die Beschaffenheit einer Oberfläche, rau oder glatt, wie ist die Temperatur eines Gegenstandes und wie fest muss ein Gegenstand gegriffen werden? „Die Haut ermöglicht eine Wahrnehmung auf einem Niveau und in einer Variabilität, die sich nur sehr schwer imitieren lassen wird“, sagt Aszmann.

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