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Warum das Notizbuch auch in der digitalen Welt nicht totzukriegen ist

Aufgaben, Ereignisse und Notizen können mit dem sogenannten Bullet Journaling auch und vor allem im digitalen Zeitalter hervorragend handschriftlich organisiert werden.

Ein Schreibtisch
Handschriftlich verfasste Notizen regen zu mehr Organisation und Kreativität an. Foto: imago

Ein nicht einmal drei Minuten langes Video, das Ryder Carroll im August 2013 auf der Online-Videoplattform YouTube postete, brachte den Stein ins Rollen. Unter dem Titel Bullet Journal stellte der heute 37-jährige Produktdesigner darin ein System vor, mit dem sich „die Vergangenheit dokumentieren, die Gegenwart organisieren und die Zukunft planen“ lässt. Alles, was man dazu braucht, sind ein Stift und ein leeres Notizbuch.

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Aufgaben, Ereignisse und Notizen werden bei dem System mit kleinen Symbolen versehen auf Papier gebracht. Ergänzt durch einen monatlichen Kalender, den man selbst auf eine leere Seite schreibt, entsteht so ein flexibler Rahmen für To-do-Listen und Notizen, der eigenen Bedürfnissen angepasst und erweitert werden kann. In einem Index am Beginn des Notizbuches werden die Inhalte sukzessive aufgelistet, sodass der Überblick nicht verloren geht. Nicht erledigte Aufgaben werden am Ende jedes Monats entweder verworfen oder in den Kalender des nächsten Monats übertragen. „Bullet Journals helfen Leuten, auf wichtige Punkte fokussiert zu bleiben“, sagt Carroll.

Priortäten setzen mit Bullet Journaling

Es gehe darum, Ziele zu definieren und sie in umsetzbare Schritte zu unterteilen. Das System ermögliche es jedem, effektive Werkzeuge zu entwickeln, um seine Herausforderungen zu bewältigen. Entwickelt hat Carroll das System, weil er als Jugendlicher unter einem Aufmerksamkeitsdefizit und einer Hyperaktivitätsstörung (ADHS) litt. „Ich habe mich auf zu viele Dinge gleichzeitig konzentriert“, erzählt Carroll, der in Wien aufwuchs, wo seine Eltern an der American International School unterrichteten,und heute im New Yorker Stadtteil Brookyln lebt. Mit herkömmlichen Produktivitätshilfen konnte er nichts anfangen. „Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich die Methode für mich gefunden habe.“ ADHS habe er mittlerweile überwunden, das Bullet Journal habe sich für ihn aber weiter als nützlich erwiesen. Dass es auch anderen Leuten hilft, überrascht Carroll nicht. Im digitalen Zeitalter falle es vielen Leuten schwer, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, meint der Designer. Viele Leute seien mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt. Bullet Journaling helfe dabei, herauszufinden, was wirklich wichtig ist: „Das ist Teil der Übung.“

Freiheit der leeren Seite

Carroll selbst bezeichnet Bullet Journaling auch als ein analoges Produktivitätssystem, bei dem die Freiheit einer leeren Seite mit der Klarheit eines digitalen Systems verbunden wird. Zum Digitalen sieht er noch weitere Anknüpfungspunkte: „Es geht um die inkrementelle Verbesserung. Man hat einen Prototypen und entwickelt ihn laufend weiter.“ Einen Nerv hat er mit der Produktivitäts-Methode jedenfalls getroffen. Sein Video wurde in verschiedenen Versionen bislang mehr als sechs Millionen Mal abgerufen. Um das flexible Kalendarium bildete sich bald eine lebhafte Gemeinschaft, in der tausende Leute ihre Ideen und Methoden austauschten. Allein auf YouTube finden sich zu dem Stichwort mehr als 650.000 Videos. „Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten, seine Gedanken festzuhalten“, meint Carroll. „Das Bullet Journal regt die Kreativität an.“

Mittlerweile hat Carroll gemeinsam mit dem Hersteller Leuchtturm ein speziell für sein System konzipiertes Notizbuch auf den Markt gebracht. „Das macht es ein bisschen einfacher, prinzipiell kann man aber jedes Heft verwenden“, sagt Carroll.

Digitales Denken kombiniert mit analoger Haptik

Ein Notizbuch, das digitale Denkweisen mit analoger Haptik verbindet, hat auch der Wiener Grafiker Michele Falchetto entwickelt. Unter der Marke Moduletto bietet er frei zusammenstellbare, mit einem Gummiband zusammengehaltene Hefte an, deren Seiten flexibel gereiht werden können.

„Man kann die Bindung lösen und einzelne Seiten im Buch neu sortieren. Notizbücher können so beliebig neu zusammengestellt werden“, erläutert Falchetto. „Dinge neu zu ordnen und miteinander in Verbindung zu setzen, ist ein digitales Prinzip. “Im hauseigenen Online-Shop können Karton-Cover, Papierart und Farbton sowie die Farbe des Gummibands individuell konfiguriert werden. Auch Hüllen in Leder, Filz und Baumwollpapier sind dort erhältlich. Ergänzt werden können die Moduletto-Notizbücher auch um Kalender. Firmenkunden

Moduletto bietet sein Notizsystem auch Firmen an und ist damit in Deutschland, Österreich und der Schweiz gut im Geschäft. Rund 150.000 der flexiblen Notizbücher habe man bereits produziert, erzählt Falchetto. Konferenzprogramme, die Veranstaltungsinformationen mit Platz für Notizen verbinden, sind ebenso darunter wie spezielle Editionen für Wellness-Hotels, in denen Gäste ihre individuellen Betreuungspläne mit eigenen Notizen versehen können.

Moduletto sei ein sehr einfaches Produkt, sagt der Grafiker. Umso wichtiger sei die Auswahl der Komponenten. „Wir haben Papier gesucht, das sich gut beschreiben lässt und bei dem sich die Tinte nicht durchdrückt“, erzählt Falchetto. Auch auf den Klang des Papiers beim Umlegen der Seite habe man geachtet. „Wir wollten auch einen samtigen Touch.“ Zusammengesetzt werden die Notizbücher in der Werkstätte Opus in Wien, die psychisch Kranken Beschäftigung bietet. Papier, Karton und Gummibänder werden von österreichischen Herstellern bezogen. „Wir könnten es in China produzieren lassen, aber wir wollen nicht, dass es um die ganze Welt geschifft wird“, meint Falchetto, der auch bei der Optimierung der Produktionsmaschinen selbst Hand anlegt. „Wenn wir Feedback bekommen, dass eine Maschine zu laut ist, suchen wir nach Möglichkeiten, wie sie schallgedämpft werden kann.“

Warum aber überhaupt noch auf Papier schreiben? Es gebe auch kein digitales Werkzeug, dessen Nutzung der greifbaren Erfahrung, Tinte auf Papier zu bringen, nahekomme. „Es ist eine Möglichkeit, sich wirklich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Papier und Stift schaffen einen Raum zum Denken, der in der heutigen Zeit immer schwerer zu finden ist. Man ist ganz bei sich.“ Es gehe um das Haptische, um das Begreifen, meint Falchetto. Das Notizbuch habe einen Nachteil, der zugleich sein größter Vorteil sei: „Man kann keine E-Mails bekommen.“

App macht Anschluss an digitale Welt möglich

Ganz auf digitale Möglichkeiten verzichten wollen aber weder Bullet-Journal-Entwickler Carroll noch Moduletto-Hersteller Falchetto. Carroll hat bereits eine App für das Bullet Journal veröffentlicht. Die ist aber nicht mehr als ein Begleiter für die Papiernotizen, kann Erinnerungen senden und bietet auch einen Überblick über die Anwendungsmöglichkeiten der Technik. Anders als Notizbücher könne die App einfach upgedatet werden, sagt Carroll. Auch Falchetto bastelt an einer Online-Plattform. Sie soll von Nutzern bespielt werden und 2018 an den Start gehen. Die von Nutzern bereitgestellten Inhalte können heruntergeladen und ausgedruckt in die Notizbücher integriert werden. Tutorials oder Lerninhalte seien ebenso denkbar wie Zeichnungen oder Gedichte.

Auch hier orientiert sich der Grafiker an den Möglichkeiten des Digitalen. Früher habe es die Schallplatte gegeben, auf die zehn Songs gepresst wurden. Dann sei das Streaming gekommen und jeder habe sich die Lieder aussuchen können, die er tatsächlich hören wolle, sagt Falchetto: „Wir transferieren dieses Prinzip in die Buchwelt.“

„Es gibt viele Leute, die sagen, Task-Manager sind nicht mein Ding, sie benutzen dann Papier oder einfache Text-Dateien für ihre To-do-Listen “, sagt Werner Jainek von Cultured Code. „Wir haben das ernstgenommen und uns gefragt, warum das so ist.“ Seit 2009 versucht das Stuttgarter Unternehmen, sie mit seiner App Things vom Gegenteil zu überzeugen. Mit Erfolg. Insgesamt mehr als vier Millionen Mal wurde die App, die für Mac, iPhone, Apple Watch und iPad verfügbar ist und je nach Endgerät zwischen elf und 55 Euro kostet, mittlerweile heruntergeladen.

Software muss einfach zu verstehen sein

Es gebe viele Task-Manager, die „zuviel Ornament mitbringen“, sagt Jainek. Der Nutzer werde abgelenkt und könne sich nicht voll und ganz auf seine Aufgaben konzentrieren. Anwender sollten nicht erst ein Handbuch lesen müssen, um Software zu verstehen, meint der Entwickler: „Wir wollten die App unsichtbar machen, sodass unsere Nutzer das Gefühl haben, vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen.“

Die dritte, grundlegend überarbeitete Version der Software, die im vergangenen Frühjahr veröffentlicht wurde, kommt diesen Anforderungen ziemlich nahe. Aufgaben und Projekte lassen sich in der minimal gehaltenen Anwendung einfach mit Überschriften versehen und in Checklisten unterteilen, sie können am Bildschirm nach Belieben hin- und hergeschoben und mit Deadlines und Tags versehen werden. Natürlich lassen sich auch Erinnerungen zu den einzelnen Punkten der To-do-Listen setzen.

Neben der Tagesansicht gibt es nun auch eine Vorschauansicht, in der sich für die nächsten Wochen und Monate geplante Aufgaben abrufen lassen. Daneben gibt es Schnittstellen zu Kalendern, sodass in der Tages-, aber auch in der Wochenansicht anstehende Termine automatisch hinzugefügt werden und man einen kompakten Überblick über anstehende Aufgaben und Termine bekommt.

Neue Aufgaben per Sprachbefehl

Neue Aufgaben und Projekte können auch per Spracheingabe erstellt werden. Vor allem auf mobilen Geräten gewinne Spracheingabe zunehmend an Bedeutung, meint Jainek. „Es ist wichtig, Ideen sofort aus dem Kopf zu kriegen.“ Seit kurzem kann man sich auch per E-Mail Aufgaben an Things schicken. Auch mit kollaborativen Funktionen will man die App ergänzen. Die iPad-Version will das deutsche Entwicklerteam noch ausbauen: „Wir sind überzeugt davon, dass das iPad ein fantastischer Allzweckcomputer ist. Viele benutzen ihn ausschließlich.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf futurezone.at.

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