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Millionen Haushalte betroffen: „Gas-Ministerin“ Reiche plant drastischen Kurswechsel

Energiepolitik bestimmt die Stromrechnung von Millionen Haushalten. Ministerin Reiche plant einen drastischen Kurswechsel.

Friedrich Merz (l) und Katherina Reiche (r) reichen sich die Hand
© IMAGO / Bernd Elmenthaler / Canva.com [M]

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Bundeswirtschafts- und Energieministerin Katherina Reiche (CDU) hat den Auftrag für ein Monitoring-Gutachten erteilt, das die Grundlage für eine Neuausrichtung der deutschen Energiepolitik bilden soll. Der Bericht, den die Beratung für die Transformation der Energiewirtschaft (BET) und das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln (EWI) erstellen sollen, ist Teil des Koalitionsvertrags von CDU/CSU und SPD. Die Aufgabe: Handlungsoptionen entwickeln, die Kosten, Versorgungssicherheit und Klimaschutz gleichwertig berücksichtigen.

Katherina Reiche schafft Basis für Kurswechsel

Schon öffentlich hat Reiche angekündigt, dass sie die bisherigen Prioritäten der Energiepolitik neu gewichten will. Während unter ihrem Vorgänger Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) der schnelle Ausbau von Wind und Sonne im Mittelpunkt stand, sollen künftig Versorgungssicherheit und Preisgünstigkeit gleichberechtigt neben Klimazielen stehen. Wie WELT berichtet, habe Katherina Reiche diesen bisherigen Kurs als einseitig kritisiert: Die Politik habe den „Gesamtüberblick eher vermissen lassen“, da sie zu sehr auf einzelne Technologien fokussiert gewesen sei.

Die jüngsten Zahlen zeigen: Der Strombedarf wächst, nicht zuletzt durch die sogenannte Sektorkopplung. Sie bezeichnet die Verbindung von Strom, Wärme, Mobilität und Industrie durch die Nutzung von erneuerbarem Strom, um fossile Energieträger in allen Sektoren zu ersetzen. Laut dem Monitoringbericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aus dem Jahr 2024 verbrauchten Wärmepumpen bereits 2022 rund 4,5 Terawattstunden (TWh), Elektroautos 2,5 TWh — und die Zahlen steigen stetig.

Gleichzeitig wuchs der Anteil erneuerbarer Energien an der öffentlichen Nettostromerzeugung 2024 auf ein Rekordniveau von 62,7 Prozent, wie das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) dokumentiert. Die CO2-Emissionen der Stromerzeugung gingen weiter zurück.

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Strombedarf wächst – und Erneuerbare liefern Rekorde

Katherina Reiche betont WELT zufolge die Engpässe im Stromnetz und die angeblich überzogenen Ausbauziele. Doch der Bundesrechnungshof sieht die Ursachen woanders: Der Rückstand beim Netzausbau — rund 6.000 Kilometer Leitungen fehlen, sieben Jahre Zeitverzug — resultiert nicht aus einem „Zuviel“ an Erneuerbaren, sondern aus zu zaghaften Verbrauchsannahmen und mutlosen Planungen.

Dass Reiche mit ihrem Monitoringbericht den Erneuerbaren-Zubau ausbremst, sehen manche auch vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Karriere kritisch. Die CDU-Politikerin war bis Anfang 2025 Vorstandsvorsitzende des Netzbetreibers Westenergie, der vor allem Gas- und Stromnetze betreibt. Parallel ist sie Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats, der ein H2-Kernnetz auf Basis bestehender Gastrassen vorantreibt. Die taz nennt sie daher und aufgrund ihrer aktuellen Strategie „die neue Gas-Ministerin“. Reiche warb öffentlich für den Bau von mindestens 20 Gigawatt an neuen Gaskraftwerken.

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Studien warnen vor Bremsmanövern

Studien widersprechen der Linie, dass Gas weiter gestützt werden müsse und die Erneuerbaren gebremst werden sollten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) prognostizierte vergangenes Jahr bis 2035 einen Rückgang des Gasverbrauchs um 28 bis 63 Prozent — und damit die Notwendigkeit, das mehr als 500.000 Kilometer lange Gasnetz zurückzubauen.

Die Internationale Energieagentur (International Energy Agency, IEA) hält für Deutschland einen Erneuerbaren-Ausbau auf 100 bis 110 Gigawatt Wind an Land, 30 Gigawatt Offshore-Wind und 200 Gigawatt Photovoltaik bis 2030 für notwendig. Und der Berliner Thinktank Agora Energiewende zeigte bereits 2021, dass solche Ausbaupfade trotz hoher Anfangsinvestitionen langfristig die geringsten Kosten für das Gesamtsystem bedeuten.

Risiken eines konservativen Ausbaupfads

  • Strompreise steigen spürbar: Ein verlangsamter Ausbau von Wind- und Solarstrom würde den durchschnittlichen Börsenstrompreis 2030 um etwa 20 Euro je Megawattstunde erhöhen – die Ersparnisse bei Förderkosten würden das nicht kompensieren, zeigt eine aktuelle Analyse von Agora Energiewende.
  • Import- und Preisrisiken bleiben hoch: Die IEA warnt, dass Deutschlands Erdgasanteil am Endenergieverbrauch trotz 60 Prozent Ökostrom noch rund ein Drittel beträgt; eine konservative Strategie zementiert die Abhängigkeit von volatil bepreisten Importen.
  • Stranded-Asset-Gefahr für LNG-Infrastruktur: Europa könnte 2030 zwischen 200 und 250 Milliarden Kubikmeter LNG-Importkapazität ungenutzt lassen – mehr als die Hälfte der Terminals würde wirtschaftlich durchfallen, wenn der Gasbedarf wie in Klimaszenarien sinkt. Das zeigte das Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA) schon 2023.
  • Erneuerbare bleiben trotzdem günstiger: Aktuelle Fraunhofer-ISE-Vergleiche zeigen, dass neue Wind- und Solarparks bereits heute niedrigere Stromgestehungskosten haben als fossile Neubauten – späteres Nachholen verteuert die Systemkosten zusätzlich.

Ein konservativer Ausbaupfad hätte für Endverbraucher*innen also deutliche Folgen: Strom bliebe teurer und preisschwankungsanfälliger, weil günstiger Wind- und Solarstrom langsamer ausgebaut würde und fossile Importe länger nötig wären. Die Fixkosten fossiler Infrastruktur sowie höhere Netzkosten würden über Entgelte und Umlagen auf Haushalte und Betriebe umgelegt. So würden die langfristigen Preisvorteile der Energiewende verzögert und die Belastung für Verbraucher*innen steigen.

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Monitoringbericht wird Weichen stellen

Katherina Reiches Leistungsbeschreibung des Monitoringberichts, wie sie WELT dokumentiert, legt den Schwerpunkt auf Kostenminimierung und Netzintegration der Erneuerbaren. Entscheidend wird sein, ob BET und EWI reale Strombedarfe und ambitionierte Klimapfade abbilden oder ob sie das liefern, was politisch gewünscht ist: eine Rechtfertigung für einen langsameren Ausbau von Wind und Sonne und eine längere Laufzeit fossiler Infrastruktur.

Die Richtung, die dieser Bericht vorgibt, wird nicht nur das Tempo der Energiewende bestimmen, sondern auch die Frage beantworten, ob Deutschland seine Klima- und Versorgungssicherheitsziele tatsächlich mit wissenschaftlicher Grundlage verfolgt — oder mit einem politischen Rückgriff auf alte Strukturen.

Quellen: WELT; Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz; Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme; taz.de; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung; International Energy Agency; Agora Energiewende; Institute for Energy Economics and Financial Analysis

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