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Psychopathie: Eher Vorteil als Problem, glauben Forscher

Psychopathie ist eine bekanntesten Persönlichkeitsstörungen. Eine neue Studie weist aber darauf hin, dass sie eben das vielleicht nicht ist.

"Psycho" (1960)
Ist Psychopathie doch keine Persönlichkeitsstörung? © Getty Images/Archive Photos

Dem aktuellen Stand der Wissenschaft nach handelt es sich bei Psychopathie um eine schwere psychische Störung. Im internationalen Klassifikationssystem ICD-10 wird sie daher als „Persönlichkeit(sstörung): psychopatisch“ unter den dissozialen Persönlichkeitsstörungen (F60.2) gelistet. Der Anfang 2022 in Kraft getretene Nachfolger, das ICD-11, ordnet sie unter „6D10.Z Persönlichkeitsstörung, nicht näher bezeichnet“ ein. Glaubt man aber einem kanadischen Forscherteam, sind diese Bezeichnungen möglicherweise nicht ganz korrekt. 

Ist Psychopathie „gewollt“? 

Der Begriff „Störung“ steht synonym für eine Dysfunktion. Will heißen: Im Körper oder der Psyche funktioniert etwas nicht ganz so, wie es eigentlich sollte. Was aber, wenn die Psychopathie gar nicht in dieses Cluster fällt? Was, wenn sie eigentlich genau die Funktion erfüllt, die sie evolutionär gesehen erfüllen soll? 

Lesleigh Pullman von der School of Psychology der University of Ottawa will gemeinsam mit ihrem Team der Frage auf den Grund gehen, ob es sich bei psychopatischen Merkmalen um eine evolutionäre Asaption handeln könnte. Im Rahmen einer Meta-Analyse werteten die Forscherinnen und Forscher Daten aus, die einen Zusammenhang zwischen Psychopathie und bestimmten Handfertigkeiten nahelegen. 

„Obwohl die Ätiologie psychischer Störungen noch nicht vollständig geklärt ist, ist eine der wahrscheinlichen Ursachen die Beeinträchtigung der Neuroentwicklung“, schreibt das Team. Seine Meta-Analyse von insgesamt 16 Studien veröffentlichte es bereits Ende 2021 im Fachjournal Evolutionary Psychology. 

Psychopathen: Rechtshändig oder nicht – und warum ist das wichtig? 

Mitunter wollten Pullman und ihr Team herausfinden, ob bei Menschen mit einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür bestehe nicht Rechtshänder beziehungsweise Rechtshänderin zu sein. Dafür konnten die Forscherinnen und Forscher allerdings keine eindeutigen Beweise finden. 

„Wenn bei dem Vergleich zwischen psychopathischen und nicht-psychopathischen Straftätern die Psychopathen keine anderen klinischen Erkrankungen haben und die nicht-psychopathischen Straftäter schon, dann würde der fehlende Unterschied in der Händigkeit mit der Perspektive der psychischen Erkrankung übereinstimmen. Wenn beim Vergleich zwischen psychopathischen und nicht-psychopathischen Patienten mit psychischer Erkrankung die psychopathischen Patienten keine anderen klinischen Erkrankungen haben und die nicht-psychopathischen Patienten schon, dann würde der fehlende Unterschied auch mit der Perspektive einer psychischen Erkrankung übereinstimmen.“ 

Pullman et al. 

In ihrer Arbeit schreiben sie, dass man daher davon ausgehen könne, ihre Entwicklung sei nicht zwingend nennenswert durch ihr Umfeld beeinflusst worden. Will heißen: Die Gene könnten so wirken, wie sie die Evolution vorgesehen hat. Sie könnten denjenigen, die sie geerbt haben eine „alternative Lebensstrategie“ bieten. 

Fragwürdige Analyse-Strategie 

Wenngleich es sich bei dem Projekt von Pullman et alii um eine auf den ersten Blick umfangreiche Untersuchung handelt, sollte man diese doch mit Vorsicht genießen. Immerhin umfasste sie lediglich 16 Studien mit insgesamt nur knapp 2.000 Probandinnen und Probanden. Das macht die Ergebnisse der Forschungsarbeit statistisch schwach und angreifbar. „Die verfügbaren Studien enthielten nicht genügend Details, um Schlussfolgerungen über die Zusammensetzung der Stichproben zu ziehen“, merkt das Team zudem selbst an. 

Auch die zugrundeliegenden Variablen lassen sich in einer solchen Analyse nur schwerlich eingrenzen. Das erhöht das Risiko, mögliche Störfaktoren nicht fachgerecht ausschließen zu können, die möglicherweise das Ergebnis trüben. Ebenso müssen wir uns ungeachtet möglicher evolutionärer Vorteile auch den heutigen Stand der Psychopathie ins Gedächtnis rufen. 

So kann eine Persönlichkeitsstörung wie diese natürlich Vorteile mit sich bringen. Immerhin handelt es sich bei der Psychopathie im Kern um eine schwere Form der antisozialen (dissozialen) Persönlichkeitsstörung (APS). In Berufen mit großer (nicht-personeller) Verantwortung können einige ihrer Merkmale durchaus von Vorteil sein. Im Kontext zwischenmenschlicher Interaktion können sie aber wiederum desaströse Folgen haben – sowohl für die betroffene Person als auch ihr Umfeld. 

Quelle: „Is Psychopathy a Mental Disorder or an Adaptation? Evidence From a Meta-Analysis of the Association Between Psychopathy and Handedness“ (2021, Evolutionary Psychology); eigene Recherche 

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