Ein aktueller archäologischer Fund in Kanada erstaunt Forscher*innen. Es handelt sich um eine Runentafel, die allerdings weniger alt ist als gedacht. Offenbar stammt sie lediglich aus dem 18. Jahrhundert.
Archäologischer Fund: Ein Schwede in Kanada
Der archäologische Fund ist dem kanadischen Sender CBC News zufolge eine in Stein gemeißelte Tafel, auf der sich zahlreiche Runen aufreihen. Die erste Herausforderung für die Forschenden bestand darin, herauszufinden, um welche Sprache es sich handelt. Die insgesamt 255 Runen erschienen zunächst dem Alphabet „Futhark“ zu entspringen, mit dem die Wissenschaft die Sprache der Wikinger bezeichnet.
Doch der Leiter des Forschungsteams, Ryan Primrose, wollte nicht zu früh die These aufstellen, dass es sich um eine Tafel, die von Wikinger*innen gemeißelt wurde, handelt. Denn sowohl der Zustand des Steins als auch jener der Runen deutet darauf hin, dass diese sehr viel jünger als etwa 1.000 Jahre sind. Damals besuchte der legendäre Entdecker Leif Eriksson das heutige Kanada, verschwand aber bald wieder mit seiner Gefolgschaft.
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Vaterunser in Stein gemeißelt
Stattdessen kommen die Buchstaben wohl, wie die Forschenden herausfanden, von einem sprachkundigen Schweden oder einer Schwedin. Die Person besuchte Kanada, das damals noch eine britische Kronkolonie war, vermutlich im 18. Jahrhundert, und versuchte dann, sich im Stein zu verewigen. Erst so entstand der archäologische Fund, der dann auch entschlüsselt werden konnte.
Denn anstatt einer einfachen Botschaft oder einer Möglichkeit, die schreibende Person zu identifizieren, meißelte diese einfach das Vaterunser in den Stein. Bis zu dem Punkt, als der Runologie-Experte Henrik Williams die Worte entzifferte, war der Inhalt für Primrose und das Team „ein Mysterium“, wie dieser gegenüber CBC News erklärte.
Auch wenn die Inschrift nicht aus der Wikingerzeit stammt, bleibt sie für Williams ein bedeutender archäologischer Fund. „Der Stein von Wawa ist der erste in Ontario mit echten Runen, die längste Runeninschrift auf dem nordamerikanischen Kontinent“, zitiert das Ontario Centre for Archaeological Research & Education (OCARE) aus Williams’ 2019 erstellten Bericht, „und die einzige auf der Welt, die das Vaterunser wiedergibt“.
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Religiöse Andacht oder stille Einkehr
Historische Recherchen ergaben, dass im 19. Jahrhundert schwedische Arbeiter beim Pelzhandelsunternehmen Hudson’s Bay Company (HBC) tätig waren. Eine der Handelsstationen befand sich in der Nähe des Fundortes. Das stützt die Theorie, dass ein schwedischer Händler oder Missionar die Gravur anfertigte. Die Symbole lagen unter mehreren Zentimetern Erde verborgen und wurden vermutlich absichtlich bedeckt. Weitere Gegenstände wurden an der Stelle nicht gefunden.
Primrose vermutet, dass der Ort als Platz für religiöse Andacht oder stille Einkehr diente. Es könnte sich um einen Treffpunkt für schwedische Angestellte der Handelsstation oder das Werk einer einzelnen Person handeln. Das Rätsel um die Gravur ist weiterhin ungelöst. Das Fehlen zusätzlicher archäologischer Funde erschwert eindeutige Schlüsse.
Das OCARE und Primrose arbeiten nun daran, den Fundort zu erhalten. Sie haben eine Flächenpacht beantragt und bemühen sich um Fördermittel zum Schutz der Gravur. Geplant sind ein Schutzbau und eine öffentlich zugängliche Informationsstätte. Die Verantwortlichen hoffen, den Ort bis zum Ende des Sommers für Besucherinnen und Besucher sowie andere Interessierte zugänglich zu machen.
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Personallisten verraten mehr
Zur Zeit, in der das Gebet vermutlich in den Fels geschlagen wurde – also im frühen bis mittleren 19. Jahrhundert – war der Handelsplatz Michipicoten das Distrikthauptquartier der HBC für den gesamten Lake-Superior-Raum. Von hier aus versorgten Mitarbeitende die Außenposten entlang der Küste; zugleich entstanden Fischereien, eine Bootswerft für York-Boats sowie Schmiede- und Blechnerwerkstätten, um den Rückgang des Biberfangs auszugleichen. Der Posten bot Durchreisenden auf der transkontinentalen Kanuroute Unterkunft, gelegentliche Gottesdienste und sogar ein frühes Postamt – ein logistisches Drehkreuz, das den Alltag am Oberen See jahrzehntelang prägte.
Die Personallisten der HBC zeigen eine ethnisch gemischte Belegschaft: Neben Orcadian-Schotten, franko-kanadischen Voyageurs und Métis finden sich für die 1830er- und 1840er-Jahre mehrere schwedische Handwerker und Bootsleute – sämtlich Männer. Es gibt also gute schriftliche Hinweise, dass schwedische Beschäftigte in jener Zeit tatsächlich vor Ort waren – ein Detail, das die runische Inschrift in einen greifbaren personellen Kontext rückt.
Auch die religiöse Praxis war eng mit dem Handelsalltag verwoben. Tinerierende Missionare und wenige Missionarinnen, darunter der anglikanische Geistliche John Horden (ab 1851), versorgten die Stationen seelsorgerisch, übersetzten das Vaterunser in indigene Sprachen und verteilten handgeschriebene Fassungen an Trapper und Angestellte. Horden berichtet, er habe damit ausdrücklich auch die europäischen Arbeiter begleitet. Vor diesem Hintergrund wirkt es plausibel, dass ein gläubiger Schwede den vertrauten Gebetstext in Runen verewigte – vielleicht als stilles Zeichen der Andacht an einem provisorischen Lagerplatz tief in der kanadischen Wildnis.
Quellen: CBC News; Ontario Centre for Archaeological Research & Education; Archives of Manitoba
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